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18.06.2024, 21:00 Uhr
Portugal – Tschechien
Leipzig, Zentralstadion
Gruppenspiel – 38.421 Zs. – 2:1
geschätzte Lesezeit ca. 8 Minuten


Europameisterschaft in Deutschland. Was hat das mit mir zu tun? Um ehrlich zu sein nicht viel. Ich bin kein großer Anhänger des Nationalmannschaftsfußballs. Und dennoch zog es mich und den, den sie Jörgi nennen, heute nach Leipzig. Der Grund dafür ist einfach. Mir fehlt das Stadion zur Komplettierung der 1. Bundesliga. Da ich keinen Fuß in die Arena setzen werde, wenn das Produkt aus Leipzig seine Heimspiele austrägt, musste ich improvisieren und auf die EM warten. Da wir im Vorverkauf keine Tickets bekommen haben und auch nicht bereit waren 400 € bei ebay oder 505 € bei Viagogo (plus 100 € Bearbeitungsgebühr) auszugeben, haben wir die Reise sozusagen nackt angetreten.

In Leipzig haben wir uns mit Lenny getroffen, der in zentraler Lage wohnt und uns netterweise seinen Tiefgaragenstellplatz zur Verfügung gestellt hat. Jörg und ich sind dann zunächst einmal zum Panoramatower gelaufen, um uns die Stadt von oben anzuschauen. Auf dem Weg dahin haben wir einen 10 €-Schein gefunden, welcher uns einen kostenneutralen Zugang zur Plattform ermöglichte. Ich wertete den Geldfund sogleich als gutes Omen für unsere Ticketsuche, die am Abend anstehen sollte. Den Besuch des Panoramatowers kann ich jeden ans Herz legen. Man hat einen guten Blick über die Stadt und es ist da eigentlich nie so richtig voll. Zudem kann man da oben noch gut essen. Wer also sein Tinder-Date mal schick ausführen möchte, kann da oben sicher Punkte sammeln.

Nach unserem Höhenabenteuer haben wir uns im Außenbereich des „Alex“ in der City niedergelassen. Hier stieß dann auch Lenny wieder zu uns. Um uns herum saßen allerhand Tschechen und auch der ein oder andere Portugiese, natürlich auch einige Schönwetterfans in ihren Check24-Deutschland-Shirts. Die Stimmung kann man als ausgelassen bezeichnen, wie man es aus dem Fernsehen von solchen „Events“ kennt. Aus allen Ecken kamen irgendwelche Gesänge oder Schlachtrufe, überall Musik und alle hatten sich lieb. Mit solch einer Atmosphäre muss man erst einmal zurechtkommen. Wir führten tiefgründige Fußballfachgespräche bei ein paar Bieren und mussten irgendwann, fluchtartig den Außenbereich verlassen, weil ein starkes Unwetter über die Stadt zog, in dessen Folge ebenfalls die Fanmeilen geschlossen werden mussten. Die Bestürzung darüber hielt sich in Grenzen. Nachdem der Weltuntergang überlebt war, haben wir uns von unserem Chemnitzer Freund verabschiedet und uns auf den 30-minütigen Fußmarsch in Richtung Stadion begeben.

An den Wegen zum Stadion dann der Schock, es wimmelte von Kartenhaien. Die Hoffnung heute ein Fußballspiel zu sehen schwand sofort in Richtung Null. Mit meinem Handy in der Hand, auf dem die Laufschrift „need ticket“ lief, stellte ich mich den anströmenden Menschenmassen in den Weg. Man kommt sich wirklich wie der größte Dulli vor, wenn man mit flehenden Augen die vorbeilaufenden Menschen anbettelt. Ich hoffe das mir eine solche Aktivität in Zukunft erspart bleibt. Ein Tscheche bot mir dann tatsächlich ein Ticket für 500€ an. Ich lächelte und wünschte ihm ein schönes Spiel. Eine übertrieben schick gekleidete Asiatin bot anderen Kartenhaien Tickets an und lächelte bei einem Angebot von 400 € nur milde. Somit hatten wir von der Dame auch nichts zu erwarten. Unser Limit, über dessen Höhe ich den Mantel des Schweigens ausbreiten möchte, lag auf jedem Fall weit unter 400 €. Irgendwann drückte uns ein Kartenjäger, der gerade für 60 € ein Ticket von einem Portugiesen erstanden hatte, sein Pappschild in die Hand und das Handy konnte in der Tasche verschwinden. Jörgi übernahm ab jetzt den Job des Schildhalters und stellte sich den Menschenmassen, welche die Straßenbahn ausspuckte, in den Weg. Und tatsächlich, als wir schon nicht mehr daran glaubten, sprachen uns zwei Schotten an und boten uns zwei Tickets an. Zunächst waren wir etwas perplex, weil sie sich gerade uns ausgesucht hatten und als sie uns die Tickets für jeweils 50 € anboten, dachten wir nur, die wollen uns verarschen. Während wir also verhandelten mischte sich ein Kartenhai in unsere Transaktion ein. Der Gute musste dann noch verjagt werden, dann konnte es weitergehen. Ich hoffe du bist nicht rein gekommen, du Kunde. Unsere beiden Retter übertrugen dann ihre Ticktes auf unsere Ticket-App und wir begannen uns etwas zu entspannen. Die Beiden sagten uns, wir würden im Stadion nebeneinander sitzen. Auf die Frage, warum sie zwei Tickets zu viel hatten, antworteten sie, dass sie sich für viele Spiele mit maximaler Ticketzahl beworben hätten und diese dann auch für dieses Spiel erhalten hätten. Mit den Worten, dass ihre Getränke auf unseren Nacken gehen würden, wenn die Tickets echt wären, verabschiedeten wir uns zunächst. Total besoffen vor Glück marschierten wir gen Stadioneingang. Sollte uns der gefundene 10er tatsächlich Glück gebracht haben? Am Einlass ging dann alles ganz schnell, Handy vorzeigen, grünes Licht und wir waren drin.

Die Erleichterung über den geglückten Zutritt wich dann dem Erstaunen ob der Dimensionen des alten Zentralstadions. Denn die Arena, die immerhin 47.000 Plätze aufweist, wurde einfach in das ehemals größte Stadion der DDR hineingebaut. Das alte Zentralstadion hatte ein Fassungsvermögen von 100.000 Zuschauern, bei einem Länderspiel sogar einmal 110.000, und wurde teilweise auf Trümmern des zweiten Weltkrieges gebaut. Mich verbindet mit dem alten Zentralstadion immer eine Geschichte meines Vaters, der bei einem Spiel von Lok Leipzig, einen Regenschirm über den Schädel gezogen bekam. Beim Bau des neuen Zentralstadion (heute Red Bull Arena) wurden viele Gebäude des alten Stadions stehen gelassen und man betritt das neue Stadion quasi über die Ränge des alten Stadions, teilweise über Brücken. Das haben sie schon cool gemacht.

Das neue Zentralstadion wurde im Zuge der WM-Vergabe 2006 gebaut. Der damalige DFB-Präsident Egidius Braun knüpfte eine Bewerbung Deutschlands für die WM, an einen Spielort in den neuen Bundesländern. Im Juli 2004 wurde der Neubau des Zentralstadions eröffnet. Die Baufirma eines gewissen Herr Kölmel (kennt man in Dresden sehr gut) zeichnete verantwortlich für den Bau des Stadions. Ich muss gestehen, bei aller Liebe zu alten Stadien und deren Geschichte, ist der Neubau mit seiner geschwungenen Form, wirklich gut gelungen. Im Jahre 2010 wurde der Bau dann umbenannt und eine neue Mannschaft zog ein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Keine Bühne für Kunstprodukte!

Im Stadion dann zunächst einmal ein 7€-Bier geholt. Man kam überall gut ran, die Organisation war sehr gut. Uns fiel auf, dass unfassbar viel Personal im Einsatz war. Es gab jede Menge Ordner und Hilfskräfte, also wirklich sehr viel mehr, als bei einem normalen Bundesligaspiel. Allein hinter unserem Block standen 10 Leute in grünen Westen herum und haben Löcher in die Luft geschaut.

Unsere Plätze lagen im Block 25 (Unterrang) und damit seitlich zum Block der Portugiesen. Viel echte Fußballklientel haben wir nicht gesehen, das war auf Seiten der Tschechen anders. Da war das ein oder andere Modul vor Ort. Die Portugiesen hatten einen Capo und zwei Trommler, bei den Tschechen konnte ich ebenfalls einen Taktgeber ausmachen, aber mehr kann ich dazu nicht sagen, wir waren einfach zu weit weg und ich hatte meine Brille nicht auf.

Unsere schottischen Kollegen haben sich dann auch noch zu uns gesellt und wir hielten Wort und versorgten unsere neuen Freunde mit ein paar Bieren. Als der Heiland Ronaldo den Platz betrat, war natürlich die Hölle los. Die Handys gingen hoch und der Block der Portugiesen war außer Rand und Band. Nahezu alle Trikots waren mit dem Namen des portugiesischen Jesus beflockt. Ronaldo kam natürlich als Erster auf den Platz und ließ sich sofort von seinen Jüngern bejubeln. Die Tschechen bedachten ihn mit Pfiffen. Unsere schottischen Kollegen gaben uns derweil ein paar Hintergrundinfos (Lage, Liga) zu den schottischen Fahnen, welche im Stadion hingen. Wir erklärten unseren Freunden von der Insel, dass unser Herz für die Tschechen schlägt. Wie viele witzige und feucht/fröhliche Wochenenden haben wir bei unseren entspannten Nachbarn schon verbracht, davor kann man einfach nicht die Augen verschließen.

Zu Spielbeginn wurde im Block der Portugiesen überraschend etwas Pyro gezündet, ansonsten waren kleine Fahnen das optische Stilmittel der portugiesischen Fans. Ich war noch nie bei einem Spiel einer Nationalmannschaft, aber genauso wie die Stimmung im Stadion habe ich mir immer „Nationalmannschaftsstimmung“ vorgestellt. Es wurden hauptsächlich Schlachtrufe „Portugal“ geschrien und ab und an mal, ganz kurz, ein Lied angestimmt. Gleiches gilt für den Block der Tschechen. Allerdings haben die Tschechen 2-3 x das Stadion durch geschlossene Springerei beben lassen. Da mein Hauptaugenmerk bei Fußballspielen zumeist bei dem Geschehen auf den Rängen liegt und heute an der Ecke nicht viel geboten war, habe ich tatsächlich ein wenig Fußball geschaut. Aber Halt, eine Aktion gab es dann doch. Zwei Schönlinge haben Bier über Fotographen gekippt und wurden vom schnurrbärtigen Bockwurstsecurity gebeten dies zu unterlassen. Dem kamen sie natürlich nicht nach und so wurde die Kavallerie gerufen. Keine Ahnung zu welchen Verein die Stadionsecurity gehört aber was da für Viecher die Treppe herunter gelaufen kam, ließ einem schon einen Schauer über den Rücken laufen. Die beiden Herren erhielten also einen körperlichen Verweis und durften das Stadion verlassen. Zurück zum Spiel, es war kein gutes Spiel, die Portugiesen gaben den Ton an, ohne gefährlich zu sein. Sie haben die Tschechen kaum zu Atem kommen lassen. Dennoch haben die Tschechen, wie auch immer, vor ihrem Block das 0:1 erzielt. Natürlich waren wir nicht unglücklich darüber. Allerdings schlugen die Portugiesen, in Form eines Eigentores, zurück. Kurz darauf das 2:1 für die Portugiesen. Der Torschütze und seine Mannschaftskameraden stürzten sich nach dem Tor auf den tschechischen Torwart, um ihm den Ball für den Schwangerschaftsjubel zu entreißen. Nach der Aktion kam mir die kalte Kotze hoch. Gott sei Dank wurde der Treffer, wegen Abseits, aberkannt. Was ist jetzt besser, choreographierter Jubel oder Videobeweis? Nach der Aktion war es mir Wurst, ich hatte es dem Portugiesen gegönnt. Vom Messias war eigentlich nichts zu sehen. Er schoss, mit viel Affenzirkus im Vorfeld, dem tschechischen Torwart einen Ball in die Arme. In der 90. Minute dann doch der Siegtreffer für die Portugiesen. Wir waren bedient und haben, unter Gezeter, das Stadion verlassen. Wir sind so schnell abgehauen, dass es nicht mal mehr zu einem Treffen mit Dr. Duvell kam.

Ich werde sicher auch in Zukunft kein Fan von solchen Events. Das ist alles so dermaßen clean und glattgeschliffen, dass nahezu alles, was wir am Fußball lieben, verschwunden ist. Natürlich jubelt der Nationalmannschaftsfan beim Tor, aber danach kommt das Selfie mit dem Gästefan und dieses wird dann noch, via QR-Code, auf die große Leinwand gestreamt. Darüber hinaus sieht man, vor lauter, Handys das Spielfeld kaum. Und auch auf Fanmeilen und Public Viewing kann ich verzichten.

In diesem Sinne, bleibt Kopane gewogen.

Serge



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Author: kopane.de

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